Für mehr Sinn und Verstand in der Redaktionellen Gesellschaft
Der Newsletter der Looping Group
BILD-Chef Julian Reichelt: „Wir haben verlernt, mit Krisen umzugehen“
Editor-in-Chief Ping! LOOPING GROUP
Co-Founder und CCO LOOPING GROUP
© BILD
In wenigen Sätzen
Das Corona-Jahr 2020 war ein in vielerlei Hinsicht schwieriges, das Menschen privat wie beruflich gefordert und teilweise in tiefe Krisen gestürzt hat. Ganze Nationen mussten ihr öffentliches Leben herunterfahren, ganze Wirtschaftszweige ihre Geschäfte schließen, während an anderer Stelle neue Ideen und Dienstleistungen aufkamen. Manche Menschen schlossen sich zusammen für Nachbarschaftshilfen. Andere, um sich bei Demonstrationen Luft zu machen. Die Fragmentierung der Gesellschaft ist unübersehbar, was auch für die Medienwelt eine Herausforderung bedeutet: Das Bedürfnis nach seriöser Information und Einschätzung nimmt zu, zugleich haben für viele die Sozialen Medien einen gleichwertigen Platz eingenommen als Quelle von Inhalten. Selbst die BILD muss um ihren Stellenwert als boulevardeske Stimme der Nation kämpfen. Im exklusiven Ping!-Interview erzählt BILD-Chefredakteur Julian Reichelt, was er jetzt als zentrale Aufgabe der Medien sieht, worüber er sich Sorgen macht und was für ihn der bestmögliche Radikalisierungsschutz ist.
Ping!: Herr Reichelt, die BILD galt lange als Bauch der Nation, der ein Gespür hat für die Stimmungen und Bedürfnisse in der Bevölkerung. Als ein Medium also, das den Finger am Puls der Zeit hat. Kann die BILD das nach diesem Corona-Jahr 2020 und seiner sichtlichen gesellschaftlichen Zersplitterung noch immer von sich sagen?
Julian Reichelt: Ich würde sagen, dieser Anspruch gilt nach diesem Jahr mehr denn je. Die Frage ist ja: Was sind die Kriterien für diesen Anspruch? Da würde ich zwei sehen. Erstens deckt BILD mit besonderer Exklusivität die Themen ab, die die überwältigende Zahl der Deutschen in ihrem Alltag betreffen. Es gibt wenig News aus diesem Corona-Jahr, besonders aus den Ministerpräsidentenkonferenzen heraus, die wir nicht als eine der ersten und oft exklusiv berichtet haben. Das zweite Kriterium ist die Intonierung dieser Themen und die Sicht auf diese Themen. Wie blicken die Deutschen darauf? Wie verhalten sie sich dazu? Das zu erspüren und zu begleiten war eine besondere Herausforderung in diesem Jahr, weil 2020 so eine enorme Verunsicherung hervorgerufen hat. Und in enormer Verunsicherung wissen viele Menschen oft gar nicht, wie und was sie empfinden oder empfinden sollen – oder empfinden oft eine teils krasse Ambivalenz. Ich würde sagen, BILD hat es geschafft, die Menschen dabei abzuholen. Unsere Zugriffszahlen (durchschnittlich 3,9 Mio. Unique User pro Tag laut BILD.de-Eigenauskunft, Anm. d. Red.) und Leser-Rückmeldungen zeigen, dass sich mehr Menschen als je zuvor bei unserem Angebot aufgehoben und gehört fühlen. Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion über die Zulassung des Corona-Impfstoffs von BionTech. Der wurde schon in alle Welt verschifft, noch bevor er in Deutschland zugelassen wurde. Wie geht das? Wir bei BILD haben das thematisiert und schließlich auch exklusiv berichtet, dass die Zulassung nun doch früher erfolgen wird. Wir haben also ein Thema aufgegriffen, das viele Menschen bewegt, und wir haben aufgegriffen, was viele Menschen dabei empfinden, nämlich großes Unverständnis.
Die Zahl derer, die ein mediales Angebot machen, hat sich vergrößert: Auf der einen Seite haben Wissenschaftler wie Christian Drosten oder die Journalistin des Jahres, die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim, über Podcasts oder Social-Media-Formate plötzlich ein Millionenpublikum. Auf der anderen Seite schaffen sich auch rechte Demagogen wie ein Ken Jebsen dort ihren Resonanzraum. Hat sich der öffentliche Raum, in den die BILD stößt, erweitert? Und empfindet die BILD als Boulevard-Medium das als Konkurrenz im Ringen um populäre Aufmerksamkeit?
Ich glaube nicht, dass der öffentliche Raum sich erweitert hat. Aber der öffentliche Raum hat sich extrem fragmentiert. Und einige dieser Fragmente haben sich abgekapselt und verweigern sich jeglicher Form von Fakten und Argumentation. Das ist die große Veränderung, die nicht erst mit Corona begonnen hat, aber durch Corona sicher beschleunigt worden ist. Politisch und medial ist diese Veränderung schon länger zu beobachten. Viele haben sich tief in ihre Wahrnehmungsblasen eingegraben und sich wie ein Splitter, der sich im Gewebe verkapselt, völlig unzugänglich gemacht für alles, was nicht in ihr Narrativ passt. Und das zu Tausenden, Zehntausenden, Hunderttausenden. In Mikrogruppen, die sich zu größeren Gruppen zusammenschließen. Da sind Medienphänomene entstanden, die vollkommen neu sind für uns. Eine Konkurrenz ist das nicht, denn bei einer Konkurrenz geht man ja vom level playing field aus, von gleichen Wettbewerbsbedingungen also. Diese neuen Medienphänomene aber entziehen sich den Regeln der klassischen Mediengesellschaft, wie wir sie seit Jahrzehnten kennen. Regeln wie etwa das Zwei-Quellen-Prinzip oder überhaupt das Prinzip, eine verlässliche Quelle für eine Nachricht zu haben; oder die Regel, dass man demjenigen, über den man berichtet, die Chance gibt sich zu äußern. Da gibt es schon massive Unterschiede zwischen den Medienphänomenen des Social-Media-Zeitalters und den Angeboten der journalistischen Medienwelt. Erstere sind keine Konkurrenz, aber sie werden leider als Alternativen zu den traditionellen Medien gesehen.
Trägt die BILD mit ihren oft drastischen Titelzeilen nicht dazu bei, dass mehr mit Emotionen als mit Sachlichkeit auf ein Thema oder eine Information geblickt wird? Ist das ein Mittel, um im Kampf um Aufmerksamkeit auch die Ränder der neuen Medienwelt zu erreichen?
Da möchte ich widersprechen. Emotionalisierung ist und war schon immer das Genre des Boulevards und ist kein Phänomen für die Ränder oder die Randgruppen der Gesellschaft. Das so zu betrachten, ist eine elitäre Sichtweise. Emotionalisierung ist ein legitimes und oft notwendiges Mittel der Kommunikation. Eines, mit dem man Menschen erreicht, und zwar unbesehen ihres sozialen Hintergrunds oder ihrer Einkommensverhältnisse. Ohne Emotionalisierung hätte BILD nicht diese Reichweiten und wäre auch nicht das Medium, das quer durch alle Gesellschaftsschichten gelesen wird. Emotionalisierung ist also ein Stilmittel und keine Reaktion auf die Fragmentierung unserer Medienlandschaft.
Wie hat sich die Intonierung der BILD in den letzten fünf, sechs Jahren verändert?
Ein Grund, sich für die BILD zu entscheiden, ist immer noch der Umstand, dass wir oft exklusiv als erste von etwas wissen. Wer versucht, das allein durch Emotionalität zu ersetzen, begibt sich von der Herangehensweise des Journalismus in die Welt des Entertainments. Emotionalität und Tonalität können immer nur eine Zutat sein, nie die Grundlage. Die Grundlage sind journalistische Recherche und Exklusivität. Und die Ergebnisse dieser Grundlage tragen wir bei BILD mit besonderer Emotionalität vor. Das ist unser Rezept, und das ist in polarisierten Zeiten immer schwieriger als in konsensualen Zeiten. Denn selbst in konsensualen Zeiten kann man mit einer Emotionalisierung viele und große Gruppen nicht nur für sich einnehmen, sondern auch gegen sich aufbringen. In der derzeit ungewissen Situation, wie sie viele empfinden, ist es oft so: Wenn ein Narrativ nicht der emotionalen Wahrnehmung einer Gruppe entspricht, reagiert diese Gruppe auf besonders emotionale und oft radikale Art und Weise. Das befördert Radikalisierungstendenzen, und das muss man bedenken. Die BILD lebt von der Akzeptanz in der Breite. Wenn man Twitter liest, wird uns die Akzeptanz in der Breite dort oft abgesprochen. Aber Twitter hat mit der Breite unserer Gesellschaft und ihren Dynamiken einfach gar nichts zu tun. Twitter ist das Forum verschiedener Fragmente, die in der Medienwelt beachtet werden, steht aber nicht für die Wahrnehmungen der breiten Bevölkerung.
Vor einigen Monaten hat die Meinungsseiten-Redakteurin der New York Times, Bari Weiss, gekündigt und ihrem ehemaligen Arbeitgeber danach öffentlich Vorwürfe gemacht. "Die Zeitung hatte keine Ahnung von der Stimmung in dem Land, über das es berichtete", kritisierte sie. In ihrer Kündigung schreibt Weiss, Twitter sei zum mächtigsten Redakteur der Zeitung geworden: „Die Moral der Plattform ist zur Moral des Blattes geworden." Wie stehen Sie zu dieser Einschätzung?
Den Satz von Bari Weiss teile ich voll und ganz und empfinde ich als enorm beunruhigend. Die quasi editoriale Macht, die Twitter im deutschsprachigen und anglo-amerikanischen Raum entwickelt hat, sollte zu denken geben. Denn natürlich müssen wir verstehen und durchdringen, wie diese Social-Media-Räume funktionieren. Aber die zentrale Aufgabe von Journalismus ist es nicht, Räume zu durchdringen, die bereits öffentlich sind. Also nicht das Durchforsten und Mitverfolgen von Social-Media-Kanälen oder von öffentlichen Pressekonferenzen. Zentrale Aufgabe des Journalismus ist die Durchdringung der nicht-öffentlichen Räume, also das Berichten darüber, was hinter verschlossenen Türen im Regierungsviertel stattfindet, was vereinbart wurde vor einer Pressekonferenz oder welche Absprachen in einem geschlossenen Kanal wie Telegram getroffen werden. Man muss das Geschehen in diesen und die Dynamiken hinter diesen verschlossenen Räumen verstehen und als Quellen nutzbar machen.
In der heutigen Redaktionellen Gesellschaft gilt: Wer ein digitales Medium bedienen kann, kann Informationen verbreiten. Werden die Grenzen zwischen klassischer und neuer Medienlandschaft also immer mehr verschwimmen?
Es ist unser täglicher Kampf, dass das nicht alles eins wird. Wenn sich unser öffentlicher Diskurs auf die medialen Plattformen verlagert, die nicht auf Fakten und News aufbauen, sondern auf maximaler Empörung und Eskalation, dann möchte ich mir nicht vorstellen, wohin das führt. Davon haben wir alle mit Blick auf die USA eine ungefähre Vorstellung. Aber es hilft ja nichts, sich zu wünschen, dass das nicht so kommt – man muss aktiv dagegen arbeiten. Das heißt nicht, dass wir mahnen und warnen sollten vor Plattformen wie Twitter oder Facebook, sondern dass wir als klassisches Medium besser und attraktiver werden müssen. Da ist auf den letzten Jahrzehnten viel schief gegangen in der Medienwelt aufgrund unserer enormen Lese- und Reichweitenzahlen. Wir haben immer gedacht, dass die Reichweiten dafür sprechen, dass die Menschen uns lieben. Und dass die Reichweiten belegen, dass wir als sogenannte Vierte Gewalt im Staat neben Exekutive, Gesetzgebung und Rechtsprechung gebraucht werden. Dann kamen die Sozialen Medien und schwupps – waren die komfortablen Reichweiten weg. Und wir haben gemerkt: Die Leute haben uns nicht geliebt, es gab nur schlicht nichts anderes. Ich bin überzeugt, dass Journalismus gegen die Sozialen Medien nur ankommt, wenn wir jeden Tag aufs Neue deutlich machen, wie wertvoll unsere Arbeit ist. Und dass diese Arbeit es wert ist, dafür Geld zu bezahlen. Journalismus ist schließlich kein Selbstzweck, journalistische Arbeit muss gewollt sein. Nur über den wirtschaftlichen Erfolg bewahren wir als Medium die Unabhängigkeit. Wenn diese Unabhängigkeit mal weg ist, unterscheiden wir uns nicht länger. Dann werden wir in Schönheit untergehen.
Die von Ihnen geschilderte Fragmentierung der Gesellschaft ist neben der Corona-Pandemie und ihren Folgen das, was dieses Jahr zeichnet. Würden Sie sagen, der kleinste gemeinsame Nenner dabei ist das Bedürfnis nach Resilienz? Der Wunsch also nach Widerstandsfähigkeit und Durchhaltevermögen in und nach Schocksituationen?
Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, mich mit Tesla-Chef Elon Musk zu unterhalten, auch darüber. Er hat dabei einen interessanten Kreislauf beschrieben: „Difficult times create great people, great people create great times, great times create weak people, weak people create bad times, bad times create great people.“ Irgendwo in diesem Kreislauf sind wir gerade. In dieser Wohlstandsgesellschaft, in der wir in den letzten Jahrzehnten gelebt haben, haben mehrere Generationen schlicht verlernt, mit Krisen umzugehen. Aus diesem Mangel an Resilienz verhalten sich viele Menschen daher jetzt oft irrational und im schlimmsten Fall radikal. Daneben ist die einzige in Ausnahmesituationen hochkommende Gemeinsamkeit hierzulande, die ich immer wieder sehe, das Narrativ des Antisemitismus. Das Gefühl, dass es eine Verschwörung gibt, die alles steuert und einen selbst machtlos zurücklässt. Darauf können sich leider immer alle einigen.
In der Unsicherheit wächst neben dem Bedürfnis nach Resilienz auch das nach Verlässlichkeit. Kann die BILD das bieten?
Unser größter Beitrag als BILD, gerade in Krisenzeiten, ist es, den Menschen das Gefühl zu geben gehört zu werden. Und zwar laut und deutlich. Das ist aus meiner Sicht der bestmögliche Radikalisierungsschutz. Das heißt nicht, dass er immer wirkt, aber es ist der beste Radikalisierungsschutz, den wir haben. Nicht erst seit diesem Jahr gibt es das Phänomen der Entkoppelung zwischen den urbanen Eliten und der in der Fläche oder Breite lebenden Bevölkerung. Dieses Phänomen sehen wir nicht nur in Deutschland, sondern in nahezu allen westlichen Demokratien. Eine gesunde Demokratie findet Antworten auf diese Radikalisierungs- und Abkoppelungstendenzen, weshalb es mein Anspruch mit der BILD ist zu zeigen: Nein, du musst nicht in die Telegram-Gruppe oder noch radikalere Gruppierungen suchen, um mit deinen Bedürfnissen gehört zu werden. Und ja, wir verstehen, was dich umtreibt, was dich beschäftigt und sprechen es aus.
Von Franz-Josef Strauß ist die Maxime überliefert: „Rechts von der CSU darf es nur die Wand geben.“ Übertragen hieße das: Die BILD als Medium ist der letzte journalistische Raum, bevor die Wand und damit die Abgrenzung beginnt, hinter der geschlossene und teils extreme Gruppen ihre Echokammern suchen?
Ich tue mir schwer mit der politischen Einteilung in rechts und links, das ist mit diesem Jahr und dem aus allen Spektren besetzten Feld der sogenannten Querdenker und Verschwörungstheoretiker auch nicht einfacher geworden. Klar ist: Wir als BILD müssen die Brandmauer der Mitte sein und Abgrenzung schaffen nach links wie nach rechts. In der BILD muss Platz sein für ganz viele Positionen, auch für solche, die auf Twitter nicht populär sind. Aber die Mauer hinter diesen Positionen muss stehen.
Werden diese Menschen, die sich aus den klassischen Medien und Diskursräumen verabschiedet haben, jemals wieder erreichbar sein? Oder halten Sie diese Entwicklung und Abkapselung für irreversibel?
Teile davon sollten zurückzugewinnen sein. Unser politischer und gesellschaftlicher Anspruch sollte es ohnehin immer sein, die verloren gegangenen Menschen einer Gesellschaft wieder zu erreichen und sie in einen Diskurs einzubinden. Ich fürchte aber, dass es sich dabei aktuell doch zunehmend um Menschen handelt, die sich als Teil einer großen Bewegung fühlen wollen – egal für was oder gegen was diese Bewegung eintritt. Und aus dieser Bewegung sind sie nur herauszulösen durch die nächstgrößere, noch radikalere Sache. Menschen lassen sich immer durch Menschen gewinnen, und da stellt sich mir die Frage: Wenn ich mir eine Person vorstelle, die diese Menschen für sich einnehmen kann, dann komme ich weniger auf den Typus Barack Obama, sondern eher auf einen radikaleren Typus. Da bin ich wenig optimistisch.
Wenn Sie schon den Optimismus ansprechen: Was macht der Chefredakteur der BILD ganz persönlich, um in und nach so einem Jahr resilienzfähig zu bleiben?
Ich habe so viel Schlimmeres in meinem Leben gesehen und erlebt, dass ich es derzeit kaum als Krise empfinden mag, dass wir Essen nicht länger im Restaurant verzehren können, sondern eben zu Hause. Jeder sollte für sich auch mal die Verhältnisse zurechtrücken.
Zur Person
Julian Reichelt ist Chefredakteur und Sprecher der Geschäftsführung BILD – Deutschlands größtem Boulevard-Medium. Nach seiner Ausbildung in der Axel-Springer-Akademie und einem Volontariat bei BILD startete er 2004 im Nachrichten-Ressort von BILD. Vor seinem Eintritt in die Chefredaktion der BILD berichtete Reichelt etliche Jahre als Reporter, Chefreporter und Kriegsberichterstatter u.a. aus Afghanistan, Georgien, Thailand, dem Irak, Sudan und dem Libanon.
Der Newsletter der Looping Group
Wurde Ihnen weitergeleitet?
Haben Sie verpasst?